Man nehme eine kleine Cola-Flasche und ein Stück Stoff, rühre etwas Gips an - und fertig ist ein Faltenwurf, wie man ihn seit der griechischen Antike kennt. Diese so einfache und dabei so wirkungsvolle Realisierungsidee hatte Ingrid Bewer, eine Kollegin aus Baden-Württemberg, neulich auf Facebook vorgestellt. Ich war auf Anhieb begeistert, und nun haben meine Tutorengruppe (Seminarfach "Renaissance", 12. Jahrgang) und ich diese Idee aufgegriffem, um in einer einzigen Doppelstunde, fast aus dem Nichts eigene Faltenwürfe zu kreieren - mit Schwung!
Einige Faltenwurf-Beispiele meines Seminarfachs (12. Jahrgang):
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1. Der kunsthistorische Kontext
Zur Inspiration hatten ich ein DinA3-Blatt mit fünf sehr unterschiedlichen Faltenwürfen ausgeteilt, welche von der Antike bis heute reichen und verschiedene Arten von Faltenformen und -verläufen zeigen. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir daran das Anfertigen von Kompositionsskizzen und das Analysieren von Skulpturen üben können. Auch die Funktion des Faltenwurfs, u. a. als raumschaffendes Mittel, hätte man an diesen Beispielen erläutern und diskutieren können. Doch weil die Schüler schon voller Tatendrang waren und endlich etwas Praktisches gestalten wollten, ließen wir diesmal Theorie Theorie sein und gleich mit den Vorarbeiten an.
Perspektivisch könnte ich mir gut eine gesonderte Theorie-Einheit vorstellen: zur kunsthistorischen Bedeutung von Draperie in der Malerei, Grafik und Plastik, zu epochenspezifischen Formgebung der Faltenwürfe, ihrem illusionistischen Antäuschen von fließenden Formen, Transparenzen und Schwerkraft u. v. m.. Zur didaktischen Vertiefung dieses Themas habe ich im letzten Kapitel dieses Projektberichts einige vertiefende Quellen und Links zusammengetragen (s. Kapitel 5).
Kunsthistorische Beispiele von skulpturalen Faltenwürfen: 1: Nike von Samothrake, 190 v. Chr., Marmor, H 245 cm (ohne Sockel), Musée du Louvre, Paris; 2. Niccolò Dell'arca: Beweinung Christi (Detail. Maria Magdalena), 1462-63, Terracotta, H 151 cm, Santa Maria della Vita, Bologna; 3. Claus Sluter: Mönch am Grab von Philip d. Kühnen, Herzog von Burgund (Detail), 1390-1406, Alabaster, H 40 cm, Musée Archéologique, Dijon; 4. Frédéric-Auguste Bartholdi: Freiheitsstatue, 1886, Kupfer auf Stahlgerüst, 93 m (46 m ohne Sockel), New York; 5. Anna Lena Grau: Faltenwurf II, 2019Ton, H 73 cm, 2019, im Privatbesitz
Mein Arbeitsblat mit fünf skulpturalen Faltenwürfen aus verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte zum Herunterladen
2. Die Vorarbeit
Im Vorfeld hatte ich die Schüler gebeten, kleine Cola-Flaschen und ein-zwei alte weiße Laken o. ä. mitzubringen. Für 15 Leute standen uns am Ende zwei Laken und ein T-Shirt aus Jersey zur Verfügung, was locker für 20 Personen gereicht hätte. Diese Stoffe hatten die Schüler in 50 x 50 cm große Quadrate zerschnitten (zwei Mal die Flaschenhöhe), sodass der Stoff um und über die Flasche drapiert werden konnte und bis zum Boden reichte.
Um die Figuren aufzustellen, hatte ich Pappe in etwa DinA4-große Stücke geschnitten. Die Schüler sollten sie mit Alufolie ummanteln, damit ihre Gipsfigur nicht an der Pappe haften bleibt. Außerdem ist Modellieren mit Gips eine sehr nasse Angelegenheit, und die Pappe sollte stabil bleiben und nicht komplett durchweicht. Plastiktüte ginge als Isoliermaterial sicherlich auch, aber wir hatten auf die Schnelle nicht genug Tüten da.
Laut der ursprünglichen Unterrichtsidee von Ingrid Bewer sollten Schüler Cola-Flaschen verwenden, weil deren anthropomorphe Form schon nach wenigen Griffen eine menschliche Silhouette ergab. Doch nicht alle meine Schüler hatten rechtzeitig an Cola gedacht. Also hatten sie teils kleine Wasserflaschen, teils Apfelschorle dabei – Flaschen, die in ihrer Formgebung sehr unterschiedlich ausfielen. Also griff ich zum Plan B und ließ Schüler mit Hilfe von Draht einen Ring um den Flaschenhals oder -taille bauen. Daran ließen sich Drahtarme, Falten-Gerüste oder auch Flügel montieren. So hatten unsere Faltenwürfe am Ende sehr viel Volumen und eine starke raumgreifende Wirkung. Die Silhouette der Cola-Flaschen war dagegen kaum noch erkennbar und somit redundant.
Die wenigsten Schüler hatten für ihre Faltenwürfe Skizzen angefertigt. Die meisten hatten einfach darauf los improvisiert. Schließlich sollte es eine reine Experimentierstunde werden, ohne Notendruck, ohne feststehender Beurteilungskriterien, allerdings mit ordentlich Zeitdruck – denn wir hatten nur 90 Minuten zur Verfügung, und außerdem wurde Gips nach dem Anrühren innerhalb von 15 Minuten fest, also musste alles sehr schnell gehen.
3. Das Modellieren
Aus dem Baumarkt hatte ich 3 Liter Modelliergips mitgebracht. Auf seiner Verpackung stand, man solle ihn im Verhältnis 1 zu 1,5 ins Wasser rieseln lassen und dabei kontinuierlich rühren. Doch statt der vorgeschriebenen 4,5 Liter hatte ich 5 Liter Wasser in den Eimer gegeben: Der Gips sollte etwas dünner werden und etwas langsamer trocknen als üblich, und tatsächlich ist diese Strategie voll und ganz aufgegangen. Die Schüler mussten sich zwar trotzdem beeilen, ihre in Gips gebadeten Stoffstücke um die Flasche in Form zu bringen, bevor der Stoff hart wird. Doch alles in allem hatten wir eine gute halbe Stunde vom Moment des Gipsanrührens bis zum Festwerden der Stoffe. Auch der Restgips im Eimer fing nach etwa 20 Minuten an anzudicken, also schöpften einzelne Schüler diesen nun waffelteig-festen Gips mit Bechern ab und ließen ihn von oben über die nassen Faltenwürfe fließen, was den Sauereifaktor auf den neuen Level hob, aber auch interessante Effekte und noch mehr Volumen erzeugte.
Im Nachhinein hatte sich das Tunken der Laken in Gips ("I-i-i-i-ih! Es ist ganz nass! Und es stinkt!") und das Umwickeln der Flaschen ("Im Leben hält es nicht ... Oh Mist, es ist schon trocken!") als vergleichsweise einfach erwiesen. Viel schwieriger war es, den Raum hinterher wieder sauber zu bekommen, denn der flüssige Gips tropft und fließt und bleibt nicht dort, wo er hingehört. Wir hatten den Gipseimer im Waschbecken stehen, aber da jeder den Raum queren musste, um mit seinem nassen Gipslaken zurück an seinen Arbeitsplatz zu kommen, stand im Anschluss das große Bodenwischen an. Daher würde ich empfehlen, zwei-drei kleinere Gipseimer auf abgedeckten Tischen zu verteilen, um die lästige Lauferei und die Schlange am Waschbecken zu vermeiden – gerade weil das Material sehr schnell hart wird und jede Minute zählt.
Tipp Jersey: Im Gegensatz zu fest gewebten Stoffen wie Laken wird Jersey (hier von einem T-Shirt) sehr schwer, wenn er nass wird. Dadurch fallen die Falten besonders fließend.
Tipp Draht: Man kann schwere, abstehende Partien wie hier Flügel erst stützen und dann später, im trockenen Zustand, in gewünschte Form bringen. So kann aus einem schwerfälligen Gipsklops mit Außenststütze ein federleichter Engel wurden!
4. Das Fotoshooting
Nach drei Tagen waren die Stoffe weitgehend durchgetrocknet, sodass ich gestern ein kleines Fotoshooting gewagt habe. Einerseits habe ich die Schülerobjekte ganz klassisch vor einem schwarzen Hintergrund und mit dem Seitenlicht eines Halogen-Baustellenstrahlers fotografiert. Und dann habe ich den Trick 17 angewandt: den Raum abgedunkelt, auf dem Schul-iPad die maximale Lichtstärke eingestellt, auf Youtube ein Video mit changierendem Stimmungslicht à la LED aufgerufen, das Video auf Vollbildschirm gestellt, den iPad seitlich am Faltenwurf platziert und die Schülerarbeiten im wechselnden Farblicht fotografiert. Ich finde, es wirkt magisch! Beim nächsten Projekt dieser Art würde ich das Fotografieren der Objekte Schülern selbst überlassen, aber zuerst musste ich ausprobieren, ob es mit dem farbigen Licht klappt.
Ganz praktisch, wenn man ein Low-Budget-Fotoshooting mit Farblicht ausprobieren möchte: das Stimmungslicht auf Youtube, z. B. hier
Als Fortführung dieser sehr inspirierenden und sinnlichen Stunde könnte ich mir auch sehr gut vorstellen, diese Faltenwürfe zeichnen zu lassen – auch in jüngeren Jahrgängen, und auch mit farbigem Seitenlicht. Hier könnte man auf dunklem Papier arbeiten (schwarz oder grau) und Buntstifte oder Kreide benutzen. So könnte man ganz nebenbei das Höhen à la Leonardo einführen. Und bestimmt gäben diese Faltenwürfe noch mehr her!
Klassisches Fotoshooting-Arangement mit schwarzen Pappen und einem Baustrahler auf Materialwagen zur Steuerung des Seitenlichts
Ich bin gespannt, auf welche kreativen Ideen ihr noch kommt, und würde mich sehr freuen, wenn ihr mir eure Realisierungen zumailen würdet an katia.tangian@gmx.net. Gern würde ich eure Experimente mit eurer Erlaubnis und mit den von euch gewünschten Bildangaben hier auf der Seite posten, um weitere Jugendliche und Kunstkollegen zu ähnlichen Projekten zu inspirieren. Fortsetzung folgt! Und nochmals danke, Ingrid, für diesen tollen Impuls, s. unten!
Faltenwürfe im Spannungsfeld zwischen Nonne und Halloween ;-)
5. Nützliche Links und Quellen
5.1. Was alles Falten hat - auch jenseits der Kunst
Zu verschiedenen Faltenarten - auch jenseits der bildenden Kunst - findet man auf der Seite des Grafikers und Publizisten Bruno Rauch zahlreiche inspirierende und vielfältige Beispiele. Hier ein paar davon; meh unter diesem Link.
5.2. Falte ist nicht gleich Falte: zur Begrifflichkeit
Die Fakultät für Kunstgeschichte der Uni Kiel hat eine sehr hilfreiche Begiffsammlung einschlißelich Bildbeispielen zum Thema Faltenwurf zusammengestellt, welche man unter diesem Link einsehen kann.
5.3. Kurz und knapp: die Geschichte des Faltenwurfs
Der Künstler Fritz Griebel hat auf seiner Homepage eine knappe und informative Einführung in die Geschichte des Faltenwurfs verfasst. Diese kann man unter folgendem Link einsehen.
5.4. Faltenwurf-Studien der Renaissance
Mit der Wiederentdeckung der Antike rückte während der Renaissance auch das Motiv des Faltenwurfs wieder in Fokus. Südalpine Meister wie Leonardo da Vinci oder Michelangelo sowie nordalpine Meister wie Albrecht Dürer oder Matthias Grünewald widmeten sich wiederholt diesem malerisch wie zeichnerisch anspruchsvollem Thema. Hier einige besonders eindrucksvolle Beispiele aus ihrer Hand.
1+2: Albrecht Dürer: zwei Gewandstudien zum »Helleraltar«, Tusche und weiße Deckfarbe auf grüngrudiertem Papier, 18 x 25 cm, Albertina, Wien; 3: Leonardo da Vinci, Study of drapery, ca. 1470, Brush and gray-brown ink raised with white lead on linen cloth prepared in gray-brown, 28 x 19 cm, British Museum, London; 4: Leonardo da Vinci, Drapery Study, ca. 1470, Brush and sepia-gray ink raised with white lead on linen canvas prepared in gray, 24 x 19 c, Fondation Custody, Collection Frits Lugt, Paris; 5: Albrecht Dürer: Studie einer Draperie, 1521, im Privatbesitz; 6: Matthias Grünewald: An Apostle from the Transfiguration, c. 1511, Black chalk on brownish paper, heightened with white, 146 x 208 mm, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden
5.5. Aus alt mach neu: Zeichnen eines Leonardo-Faltenwurfs am iPad
5.6. Faltenwurf in der zeitgenössischen Kunst
Wer sich mit dem Faltenwurf beschäftigt und seine Entwicklung bis in die zeitgenössische Kunst verfolgt, kommt an Christo und Jeanne Claude nicht vorbei. An Literatur zu diesem bekannten Künstlerpaar mangelt es nicht, ich verlinke hier lediglich ihre Homepage.
Darüber hinaus beschäftigen sich natürlich auch andere zeitgenössische Künstler mit diesem Motiv. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Überblickausstellung des Hauses Lange, Krefeld, die 2008 unter dem Titel lief. Den Katalog zu dieser Ausstellung sowie die darin vertretenen Künstlernamen kann man u. a. hier einsehen.
5.7.Faltenwurf zeichnen lernen: ein hilfreiches Tutorial
5.8. Schnitz dir deinen eigenen Faltenwurf! Eine Anleitung
Das Schnitzer-Kolleg hat eine reich bebilderte Anleitung zum Üben von Faltenwürfen herausgebracht - nicht nur fürs Arbeiten in Holz ausgesprochen nützlich. Der Klappentext des Heftes Nr. 32 lautet: "Jede Schnitz-Arbeit ist in kleine, leicht nachvollziehbare, logische Arbeitsschritte unterteilt. Zu jedem Arbeitsschritt gibt es komplette Angaben zu den bestgeeigneten Werkzeugen und Werkzeugführungen. Auf 240 Fotos und 108 Arbeitsschritten wird auf 52 Seiten dargestellt, wie die einzelnen Arbeiten in ihrer Perfektion ausgearbeitet werden." Dabei geht es nicht um vollplastische Darstellungen, sondern um Reliefs - auch eine anspruchsvolle Faltenwurf-Variante, die bisher zu kurz gekommen ist Hier ein paar Bilder zur Inspiration; das Heft ist u. a. unter diesem Link zu beziehen.
5.9. Falte in der Geografie
"Falten sind gebogene Flächen", weiß der Geograf zu berichten, und dem kann ein bildender Künstler nur zustimmen. Es mag im ersten Moment etwas abwegig erscheinen, sich bei diesem so künstlerischen Thema an die Naturwissenschaften zu wenden, doch meines Wissens wurden Falte von niemandem so systematisch und sprachlich differenziert erforscht wie von den Geografen. Daher empfehle ich zur Vertiefung dieses Themas, vielleicht auch zur fächerübergreifenden Kompetenzschulung, den entsprechenden Text auf der Seite des Fachbereichs Geowissenschaften der Freien Universität Berlin. Mehr dazu (sowie diese anschauliche Abbildung) unter diesem Link.
5.10. Weiterführende Literatur
Zum Thema Faltenwurf liegt reichlich Fachliteratur vor - schließlich geht es hierbei nicht nur um eins der ältesten kunsthistorischen Motive überhaupt, sondern es geht beim Darstellen von Falten um Stofflichkeit und Raumillusion - DIE zentralen Themen der Kunstgeschichte. Daher ist diese kleine Literaturliste nur als erste Annäherung an dieses große Thema gedacht. Diese beinhaltet nicht nur kunsthistorische Werke, sondern auch Zeichenanleitungen zum Falten Zeichen (zum Beispiel das von Ingrid Bewer wärmstens empfohlene Buch "Körper und Gewand" von Gottfried Bammes, oder auch eine Publikation, die Modemacher adressiert und aufzeigt, wie man Falten ganz schnell zusammenstecken und welche Effekte man damit erzielen kann ("Advanced Creative Draping" von Karolyn Kiisel).
Gottfried Bammes: Körper und Gewand: Gesetzmäßigkeiten - Zeichnerische Durchdringung, Verlag der Kunst, 1997
Gilles Deleuze: Die Falte. Leibnitz und der Barock. Frankfurt/M. 2000
Amely Deiss u.a. (Hg.): Einknicken oder Kante zeigen? Die Kunst der Faltung. Ausst.-Kat. Museum für Konkrete Kunst, Heidelberg 2014
Anne Hollander: Fabric of Vision: Dress and Drapery in Painting, Bloomsbury Visual Arts, 2016
Karolyn Kiisel: Advanced Creative Draping, Laurence King Publishing, 2022
Sandra Maß u. a. (Hg.): Faltenwürfe der Geschichte: Entdecken, entziffern, erzählen, Campus Verlag, 2014
Nochmals vielen Dank an die fünfzehn Zwölftklässler des Ratsgymnasiums Stadthagen, die sich im Rahmen meines Seminarfachs der Herausforderung Faltenwurf gestellt hatten:
Lynn B.
Carolina B.
Tyrell Ch.
Til F.
Emma F.
Erik G.
Clara G.
Lisann I.
Meena L.
Elias R.-W.
Mira-Ann S.
Emma S.
Lale S.
Andreea V.
Pia W.
DANKE!
Hier noch ein paar Impressionen in Schön und in Farbe (zum Durchklicken):
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