Da kann Leonardo einpacken: moderne Gliederpuppen, schnittiger als die Proportionen-Lehre erlaubt.
Es soll ein Körper gezeichnet werden. Mindestens so gut wie Leonardos vitruvianischer Mensch (unten). Vielleicht sogar noch besser. Und am liebsten nach einem echten Aktmodell - wie an einer richtigen Kunsthochschule. Doch was tun, wenn gerade kein Aktmodell zur Hand ist? Die Gründe dafür können unterschiedlich sein. Der naheliegendste: Eure Freunde und Familienangehörige wollen sich nicht ausziehen. Grund zwei: Ihr selbst wollt es auch nicht. Und dann kommt erschwerend hinzu, dass im Moment keine Aktzeichen-Kurse stattfinden, nirgends. Stichwort Corona. Eine verfahrene Situation...
Doch für jedes Problem gibt es bekanntlich eine Lösung, und oft nicht nur eine. Hier sind ein paar Lösungsvorschläge zur Auswahl:
Tänzer und Artisten bringen Bewegung ins Spiel.
Plan A: Fotovorlagen aus dem Internet gehen immer. Dort kann man nackte Menschen googlen. Habe ich gehört. Habe ich auch ausprobiert. Man findet tatsächlich was. Aber nicht unbedingt das, was man zeichnen möchte. Abgesehen von den - nennen wir es "originellen" - Körperhaltungen, welche die Aktfotografen offenbar vorziehen, sind nackte Menschen, bei hellem Licht betrachtet, nur selten nett anzuschauen. Stundenlang nach einem fremden nackten Körper zu zeichnen kann eine deprimierende Angelegenheit werden.
Eine Alternative dazu bieten Fotos von Athleten, Akrobaten, Balletttänzern & Co: Einerseits haben sie als Folge ihrer Professionalisierung wunderschöne Körper. Andererseits tragen sie einen Hauch von nichts, so dass man ihre wohldefinierte Muskulatur bestens studieren kann. Schließlich findet man im Netz viele tatsächlich originelle Körperhaltungen, die eine starke Spannung aufweisen, unter anderem dank ihrer extremen Torsion (Drehung um die Körperachse) und ihrer raumgreifenden Glieder. Wenn ihr nach einer solchen Vorlage zeichnet, wird euer Bild automatisch plastisch und dynamisch erscheinen.
Picasso konnte gut zeichnen. Mit 12.
Plan B: Zeichnen nach Skulpturen und Gipsabgüssen stellt eine altbewährte Methode dar. Zu gut, dass griechische und römische Bildhauer uns so viele hervorragende Skulpturen hinterlassen haben! Im Original oder als Gipskopie bevölkern sie heute unsere Museen - und auch manch einen Vorgarten.
Allerdings sind diese Skulpturen selten vollständig. Irgendetwas fehlt ihnen immer. Aber auch hier lässt sich aus der Not eine Tugend machen: Das erhaltene
Fragment kann für eine Detailstudie verwendet werden, um zeichnerische Schwerpunkte zu setzen.
Früher mussten Kunststudenten Gipsabgüsse von Händen und Füßen zeichnen, immer und immer wieder. Schließlich sind diese Partien besonders kniffelig. Aber auch Arme, Köpfe und Torsi (Torso, Sg. = Rumpf) kamen öfter vor. Der junge Pablo Picasso studierte zum Beispiel die Torsion des Torso (skulpturale Quadratur des Kreises?) am Beispiel von Torso von Belvedere (oben). Bei der oben abgebildeten Zeichnung war er 12 Jahre alt.
Warum der selbe Künstler im Erwachsenenalter Werke schuf, die gegen alle anatomischen Regeln verstoßen (wie die Blechskulptur rechts, "Kleine Frau mit ausgebreiteten Armen", 1961), steht auf einem anderen Blatt und soll in einem der nächsten Beiträge erörtert werden. Hier sei festzuhalten, dass das Kopierstudium nach Aktmodellen, Skulpturen und anderen anatomischen Vorlagen am Anfang jeder Künstlerkarriere steht. Auch bei Picasso.
Eine gute Gliederung ist nicht nur im Fach Deutsch das A und O.
Plan C: Gliederpuppen bieten sich als eine echte Alternative zum #Aktzeichnen an. Sie sind geschlechtslos, auf Idealmaße zurechtgestutzt und in geometrische Teilformen untergliedert. Die Vorteile einer solchen Vorlage liegen auf der Hand:
Zum einen ist das ökologisch anmutende Holzmodell deutlich netter anzuschauen als manch ein Aktfoto aus dem Internet.
Zum anderen können dessen Glieder nach Bedarf bewegt werden - ein echter Mehrwert gegenüber Fotovorlagen und erst recht gegenüber antiken Skulpturen, die nicht einmal alle Glieder haben.
Außerdem vermittelt die Puppe dank ihrer formalen Reduktion ein besseres Verständnis für die Anatomie. Auf einmal erscheint alles ganz einfach: Der Körper besteht aus mehreren formstabilen, überwiegend zylindrischen Formen, welche mithilfe von Gelenken flexibel miteinander verknüpfen sind. Mehr ist da nicht dran. Adieu, das gummiartige Verbiegen von Schienbeinen und Oberarmen, wie man es auf Anfängerzeichnungen antrifft...
Allein wegen dieser klaren Gliederung also lohnt sich die Anschaffung einer Gliederpuppe. Und wenn man gerade keine zur Hand hat, lassen sich ihre Abbildungen genauso gut googlen wie alle anderen Abbildungen auch.
Gliederpuppe 2.0.: ein optisches Upgrade
Plan D: Action-Figur-Modelle sind gerade der neueste Trend. Im Vergleich zur klassischen Gliederpuppe sind sie deutlich detaillierter gestaltet, haben eine eindrucksvolle Muskulatur und rangieren, anatomisch betrachtet, irgendwo zwischen Barbie (bzw. Ken) und Wonder Woman (bzw. Superman).
Auch ihre Ähnlichkeit mit Anime- und Manga-Helden ist nicht zu übersehen.
Natürlich könnte man ihnen vorwerfen, dass sie zu wenig "echt", sondern vielmehr wie Roboter aussehen. Doch auch antike Statuen und die Holz-Gliederpuppe erscheinen stark idealisiert beziehungsweise abstrahiert. Zum Zeichnen Üben eignen sich die Action-Figur-Modelle genauso gut.
Man kann eine solche Figurine besitzen - muss man aber nicht. Auch dazu gibt es reichlich Bilder im Internet. Und wenn diese nicht ausreichen, kann man sich über YouTube Videos davon angucken. In manchen von ihnen werden die Action-Figuren sogar animiert. Hält man das Video mitten in einem Bewegungsablauf an, kann man den entfesselten Action-Helden in aller Seelenruhe skizzieren (genaue Anleitung dazu s. unten).
Einmal du, einmal ich: gegenseitiges Modellstehen. Angezogen, wohl bemerkt.
Plan E: Zeichnen nach einem angezogenen Modell ist unter häuslichen (und erst recht schulischen) Bedingungen leichter zu realisieren als nach einem nackten. So viel steht fest. Allerdings pfuscht man bei dieser Methode eher: Die Kleidung verführt dazu, weniger genau hinzuschauen und anatomische Fehler unter den vielen Stofffalten zu verstecken.
Trotzdem lohnt es sich, diese Methode auszuprobieren. Allein, weil euer Modell nicht ewig sitzen bleiben wird. Üblich sind Zeicheneinheiten zwischen 5 und 20 Minuten. Im Liegen vielleicht ein bisschen länger. Und ihr wisst, wie schnell eine Kunst-Doppelstunde vergeht. Was sind da schon 20 Minuten? Also werdet ihr beim Zeichnen nach Modell schnell und skizzenhaft arbeiten müssen. Das hört sich stressig an, und - ich will nicht lügen - es ist auch stressig.
Aber: Man verbessert sich dabei erstaunlich schnell. Ihr solltet allerdings am Ball bleiben und nicht allzu kritisch mit euch selbst sein. Denn meiner Erfahrung nach ist es der schlimmste Fehler, den man beim Zeichnen machen kann: Zu früh aufgeben. Gibt euch und eurer Zeichnung eine Chance, und es wird von Mal zu Mal besser, versprochen.
Ein Tipp am Rande: Wenn ihr eine*n Gleichgesinnte*n habt, der bzw. die auch gerne zeichnet, könnt ihr euch beim Modell Sitzen abwechseln und danach die Ergebnisse vergleichen. Das macht richtig Laune - und führt nebenbei zu unfreiwillig komischen Ergebnissen, über die man gemeinsam lachen kann.
Modellzeichnen: Nicht alle können es auf Anhieb gleich gut. Aber alle werden mit der Zeit besser.
Im Gegensatz zu fotografischen Vorlagen gibt es bei einem "Echtzeit"-Modell eine relativ begrenzte Anzahl an machbaren Positionen: Stehen - Sitzen - Liegen. Solltet ihr euch etwas mehr Dynamik wünschen (Laufen - Springen - Fallen...), könnt ihr eure Modelle auch erst fotografieren und dann zeichnen. Diese Methode ist hilfreich, wenn ihr eine ganz bestimmte Körperhaltung aus einer ganz bestimmten Perspektive braucht, zum Beispiel für eine Illustration. Die Bildrecherche im Netz wäre bei dieser speziellen Problemstellung nicht sinnvoll: Dort findet man alles mögliche, nur nicht das, wonach man sucht. Besser, ihr stellt die gewünschte Position fotografisch nach und zeichnet sie dann in aller Ruhe ab. Und zwar ohne das nörgelnde Echtzeit-Modell im Nacken.
Bildrecherche im Netz: die Basics
Bei der Bildrecherche im Netz kommt es zuerst auf sinnvoll gewählte Suchbegriffe an, zum Beispiel "Gliederpuppe / Sprung". Eine zusätzliche Bewegungsangabe ("Sprung") soll dabei verhindern, dass eure Vorlagen statisch und gleichförmig aussehen. Die Bilderauswahl vergrößert sich, wenn man die Suchbegriffe in verschiedenen Sprachen googlet. "Gliederpuppe" heißt zum Beispiel auf Französisch "mannequin articulé", auf Englisch "lay figure" usw.
Bei der Recherche empfiehlt es sich, von Anfang an auf eine gute Bildqualität zu setzen. Nachdem ihr bei Google die gewünschten Begriffe eingetippt habt (z. B. "Ballett / "), geht ihr auf "Bilder -> Suchfilter -> Größe -> groß". Daraufhin werden euch nur noch hochaufgelöste Bilder angezeigt. Das ausgesuchte Bild solltet ihr unbedingt mit einem eindeutig zuzuordnenden Namen versehen und auf eurer Festplatte speichern. Denn falls das Zeichnen länger dauert, der Rechner abstürzt, eure kleinen Geschwister den Sicherungskasten finden - die Bildvorlage bleibt sicher aufbewahrt.
Optional kann statt eines Fotos ein Video-Standbild verwendet werden. Hier würde man dieselben Schlüsselbegriffe eingeben, aber statt "Bilder" "Videos" auswählen - oder gleich auf YouTube recherchieren. Hat man sich für einen Bewegungsablauf entschieden (zum Beisiel einen Akrobaten im freien Flug), drückt man auf Pause und erstellt ein Screenshot. Auch dieses sollte man unbedingt auf der Festplatte speichern. Wie man ein Standbild erstellt, könnt ihr in verschiedenen Tutorials erfahren.
Bei der Fotorecherche ist es sinnvoll, nach einer schwarz-weißen Vorlage zu suchen. Das erleichtert das spätere Schraffieren. Ihr könnt gleich nach einer schwarz-weißen Vorlage googlen, indem ihr bei den Suchbegriffen "schwarz weiß" mit eingebt. Oder ihr öffnet ein farbiges Bild in einem Bildbearbeitungsprogramm und wandelt es in Schwarz-Weiß um.
Falls eure Fotovorlage zu flau, also zu kontrastarm ausfällt (was bei einer Umwandlung von farbig auf schwarz-weiß fast immer der Fall ist), solltet ihr die Hell-Dunkel-Kontraste erhöhen: auf dem Handy, in einem Bildbearbeitungsprogramm oder, ganz old-school-mäßig, an einem Fotokopiergerät. Optimalerweise sollte eure Fotovorlage vollkommen schwarze und vollkommen weiße Bereiche haben. Damit wäre das gesamte Graustufen-Spektrum abgedeckt, was der Plastizität eurer Zeichnung zugute kommen wird.
Es ist dagegen nicht sinnvoll, nach einer gemalten oder gezeichneten Vorlage zu arbeiten, wie man sie ebenfalls im Netz findet. Eine solche Vorlage würde euch zu viel vorwegnehmen. Jemand anderes hätte eurer Vorlage seinen zeichnerischen Stempel aufgedrückt, seine persönlichen Schwerpunkte gesetzt, Details weggelassen, eine eigene Schraffurtechnik angewandt... Besser ist es, nach einem Foto bzw. Modell zu arbeiten und eigene kreativen Akzente zu setzen.
Und die echten Puristen unter euch möchte ich ermutigen, sich früher oder später an ein echtes Aktmodell heranzuwagen. "Mit dem zweiten sieht man besser", wie es im alten ZDF-Werbespruch hieß: Das zweite Auge bringt nämlich die dritte Dimension ins Spiel, die bei einer zweidimensionalen Vorlage fehlt. Natürlich stellt es auch eine Herausforderung dar, aber dafür ermöglicht es mehr Spielraum und somit Lebendigkeit. Außerdem bleibt ein Aktmodell "in Echtzeit" nicht ewig stehen, wie schon geschrieben. Dies wiederum kommt euerem Arbeitstempo und eurer Entscheidungsfreudigkeit zugute. Und im Gegensatz zu einem angezogenen Modell verzeiht ein Aktmodell keine Fehler: Stimmt etwas nicht bei der perspektivischen Verkürzung oder bei der Körpersymmetrie, würde es auch ein Nicht-Künstler sofort erkennen. Pfuschen unmöglich. Zugegeben, es fühlt sich am Anfang komisch an, im gleichen Raum mit einem nackten Menschen zu stehen und ihn auch noch die ganze Zeit anschauen zu müssen. Aber unter Zeitdruck zu arbeiten ist so nervenaufreibend, dass es irgendwann vollkommen egal ist, ob das Modell nackt ist oder nicht. Falls also in eurer Wohngegend Aktzeichenkurse angeboten werden, solltet ihr euch trauen und es einfach mal ausprobieren. Viel Spaß dabei!
Bildnachweis
1. Oben: Pablo Picasso (1881-1973): Torso, 1892-93
Kohle und schwarze Kreide auf Papier, 52,4 x 36,7 cm
Museo Picasso, Barcelona
2. Oben: Pablo Picasso: Kleine Frau mit ausgebreiteten Armen, 1961
Ausgeschnittenes und gefaltetes Eisenblech, weiß und grau bemalt, 36,2 x 34,5 x 13 cm
Fondation Beyeler, Riehen / Basel
3. Rechts: Leonardo da Vinci (1452-1519): Der vitruvianische Mensch, um 1505
Feder, laviert, auf Papier, 34,4 × 24,5 cm
Galleria dell' Accademia, Venedig
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